In den waldfreien Agrarlandschaften leben Rehe das ganze Jahr über nur in den Feldern. Gegenüber Waldrehen zeigen sie Besonderheiten in der Lebens- und Verhaltensweise.
Der typische Lebensraum unserer Rehe sind lichte Wälder und der Waldrand. Bedingt durch die Flurbereinigung und durch den Übergang zu industriemäßigen Produktionsmethoden in der Landwirtschaft, entstanden in Nord- und Ostdeutschland große waldfreie Räume, in denen eine intensive Pflanzenproduktion auf großen Schlageinheiten betrieben wurde und wird. In diesen Agrarräumen sind Strukturelemente wie Hecken,Gebüsche, Baumgruppen, feuchte Senken, Sölle, Feldraine, Ödländereien und Feldwege planmäßig durch Flurbereinigung beseitigt worden. Jeder Quadratmeter Boden wurde rücksichtslos in Acker- oder Grünland umgewandelt
Feldrehe sind im Wildbret stärker als Rehe, die im Wald leben. Häufig gibt es beim Geschlechterverhältnis einen weiblichen Überhang Foto: AdobeStock/Pavol Klimek
Solche großflächigen Agrarlandschaften entstanden unter anderem in der Magdeburger Börde, im Thüringer Becken, inder Leipziger Tieflandsbucht, inder Lewitz oder der Großen Friedländer Wiese. Überall dort, wo der Wald fehlt, ist das Feldreh die Jagdwildart schlechthin. Anders als im Wald, muss man sich keine Sorgen über die Wilddichten machen, denn Wildschadensprobleme bereitet dem Jagdpächter das Feldreh in der Regel nicht. Feldrehe sind längst ein willkommener Ersatz für die allerorts starkzurückgegangenen Niederwildbesätze. Wieviel Rehe pro 100 Hektar Feld möglich sind, ist noch unbekannt. Das kann man getrost den Rehen selbst überlassen. Die gegenwärtigen Wilddichten in den am besten besetzten Revieren liegen aber kaumüber fünf Rehen pro 100 Hektar. Dabei ist es relativ leicht, die Feldrehe zu zählen. Sie sind den ganzen Tag auf der freien Fläche aktiv und können von erhöhten Beobachtungspunkten auf den bevorzugten Einstandsflächen ziemlich genau gezählt werden. Nur in Gebieten mit hohem Anteil von Feldhecken und Buschgruppen, muss man davon ausgehen, dass einige Rehe unsichtbar bleiben. Aber schon Mitte Januar haben sich alle Rehe eines Einstandsgebietes zu einem Sprung oder zu einigen wenigen, zahlenmäßig auch sehr großen Sprüngen zusammengerundelt. In dieser laublosen Zeit nehmen die Rehe Hecken nicht mehr als Einstand an.
Feldrehe passen sich an
An den neuen Lebensraum waldarmer Acker- und Weidelandschaften hat sich das Rehwild gut angepasst und eine dem Steppenwild ähnliche Lebensweise angenommen. Rehwild besiedelte so die großen zusammenhängenden Ackerbaugebiete, ebenso größere Wiesen und Weideflächen. Feldrehe zeigen im Unterschied zu Wald- oder Waldrandrehen eine unterschiedliche Konstitution, eine verschiedene Verhaltensweise und eine differenzierte Populationsdynamik.Dabei handelt es sich selbstverständlich um ein und dasselbe„Europäische Reh“ (Capreolus c.capreolus L. 1758). Feldrehe sind keine besondere Rasse, aber eine besondere Form umweltbedingter Anpassung. So gesehen könne sie von den Waldrehen unterschieden werden, nennen wir sie „ÖkotypFeldreh“. Schon Ferdinand v. Raesfeld verstand unter Feldrehen jene Rehe, die jahraus, jahrein ausschließlich im Feld stehen. Die Umgestaltung der Pflanzenproduktion begünstigte die Herausbildung von Feldrehbeständen. In der DDR bildeten sich reine Feldrehbestände erst mit der Gründung der großenlandwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG). Eine kleinbäuerliche Feldwirtschaftist zwar reich strukturiert, bietet eine vielseitige Nahrungsgrundlage, führt aber wegen ständiger Störung und Beunruhigung nicht zum Entstehen von Feldrehpopulationen.
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Durch den Zusammenschluss mehrerer LPGs und der Herausbildung spezialisierter Pflanzenbaubetriebe in einer Größenordnung von 2 000 bis mehr als 4 000 Hektar wurden die Feldrehbestände weiter gefördert. Die großflächigen Agrarräume brachten mehr Deckung, weniger Störung und eine Verbesserung der Äsungsverhältnisse.Hinsichtlich Deckung, Beunruhigung oder Windschutz verschlechtert sich der Lebensraum nur in der vegetationslosen Zeit. In der Vegetationszeit dagegenheben die großen Schläge von Getreide, Mais und Raps diese Nachteile wieder auf.
Gleichzeitig bieten sie dem Rehwild eine vielseitige Äsung, die wesentlich besser, abwechslungs- und energiereicher ist als im Wald. Rehwild findet das ganze Jahr über ausreichend Grünäsung in den Feldern. Im Herbst und bis in das Frühjahr überwiegt der Raps, es folgen Grünbrachen und Dauerödländereien. Die Ackerfurche ist noch attraktiver als das Wintergetreide, weil sie mehr Windschutz bietet. Entscheidend für den Wert ist aber die Vorfrucht. Auf vorangegangenen Zuckerrübenflächen findet Rehwild zusätzlich eine gute Äsung. Winterzwischenfrüchte, Futterpflanzen, Hackfrüchte und Spezialgemische auf Äsungsflächen und Wildäckern ergänzen das Nahrungsangebot. Durch die Veränderung der Anbaustruktur nach der Wende ist das heutige Äsungsangebot nicht mehr so vielseitig und abwechslungsreich. Nach der Ernte des Getreides sind auch die Feldrehe sowie die Feldhasen von einer vorübergehenden Äsungsarmutbetroffen.
Kollektive Wachsamkeit
In der vegetationslosen Zeit bilden Feldrehe zu ihrer Sicherheit– viele Augen sehen viel – besonders große, kopfzahlstarke Sprünge. Dabei bildet sich eine Form der „kollektiven Bewachung“ des Sprunges heraus. Feldrehe verlassen sich vorwiegend auf ihre Lichter. Ein besonderes Zeichen der Anpassung anihre neue Umwelt ist die Verlagerung der Sinnesorientierung von Geruchs- und Hörsinn aufdas Sehvermögen. Beobachtet man solche Sprünge, stellt man an den Rändern immer einige besonders aufmerksame Stückefest: Das sind einzelne „Wächter“, die das umliegende Feld beobachten. Bei den Feldrehen beobachtet man eine deutlich stärkere undfrühere Ausbildung von Sprüngen als bei den im Wald lebenden Rehen. Im Frühherbst haben sich die Rehe bereits zu mehr oder weniger großen Sprüngen zusammengefunden, die sich nach und nach zu großen Sprüngen vereinigen. Mitte Januar haben sich dann aus den einzelnen kleineren Sprüngen (bis neun Rehe) wenige große Sprünge (über 30 Rehe) gebildet. Es können sogar mehr als 100 Rehe pro Sprung erreicht werden. Je stärker die Störungen sind, um so größer ist die Tendenz zum Zusammenschluss mehrerer Sprünge zu Großsprüngen. Im Februar stagniert die Sprunggröße. Der Zusammenhalt dauert bis in den Mai an. Mit dem Aufwachsen neuer Deckung lösen sich die Sprünge auf. Auch Feldrehe leben im Sommer solitär.Im Sprung spielen Warnsignale und Fluchtbereitschaft eine große Rolle. Eine besondere Warnfunktion hat der helle, meist strahlend weiße Spiegel, dessen Signalwirkung durch das Spreizen der Spiegelhaare besonders hervorgehoben wird. Im Erregungszustand ist der Spiegel doppelt so groß, andere Rehe werden darauf aufmerksam, spreizen ebenfalls ihren Spiegel und sichern. So wird nach und nach der gesamte Sprung fluchtbereit. Ergreift nur ein Reh die Flucht, schließt sich der gesamte Sprung an, auch benachbarte Sprünge. Die Fluchtbereitschaft ist ständig sehr hoch. Dagegen schrecken Feldrehe im Herbst und Winter so gut wie nie. Feldrehe halten eine sehr große Fluchtdistanz, die selbst in Gebieten mit geringer Störung bei 400 bis 500 Metern liegt. Die wenigen verbliebenen Gebüsche,Hecken, Windschutzstreifen, Talsohlen und Bodenvertiefungen in kupiertem Gelände werden dann als Deckung und Windschutz genutzt. Dagegen ist der Aktionsraum eines Rehwildsprunges bei geringer Störung eher klein. Das Rehwild stellt sich dort ein, wo es genügend Äsung findet, zum Beispiel ein Rapsschlag, und ausreichende Sicht vor Feinden und Störern hat. Dabei reichen ihm Flächen von zirka 200 Hektar Fläche.
Anders als im Wald
Feldrehe unterscheiden sich von ihren Artgenossen, die vorwiegend im Wald leben, auch hin-sichtlich Größe, Gehörnentwicklung, Alter und Verlusten. Nach Untersuchungen, die man in der DDR vorgenommen hat, sind Feldrehe durchschnittlich stärker als Waldrehe. Gleichzeitig hat man festgestellt, dass sie wesentlich robuster gegen Witterungseinflüsse sind als Waldrehe. Das spricht für eine ausgewogenere Ernährung und einen besseren Stoffumsatz. Bei Feldrehen kann man eine ständige Äsungsaktivität beobachten. Hinsichtlich der Gehörnqualität stehen Feldrehe den Waldrehen nicht nach. Vielmehr zeigt sich in einigen Gebieten, dass sich unter den Feldrehen immerwieder besonders starke Trophäenträger herausbilden. Die Gehörne sind aber meist hell gefärbt, weil nur kleinere Büsche und Sträucher zum Fegen zur Verfügung stehen.Es gibt Behauptungen, dass Feldrehe nicht so alt werden wie Waldrehe. Das ist aber nicht wissenschaftlich belegt. Die Verluste sind aber etwas höher als im Wald, besonders die Kitzverluste, die durch Ernte- wie Mäharbeiten eintreten. In Feldgebieten sind Rehe durch den Straßenverkehr besonders bedroht.Feldrehbestände haben ein Geschlechterverhältnis mit weib-lichem Überhang. Das hängt mit der Jagd zusammen: Es werden wohl doppelt so viel Böcke wie weibliche Stücke erlegt, weil die Revierinhaber sich beim Abschuss von Ricken und Kitzen zurückhalten, um den Bestand weiter aufzubauen.
Jagd auf Feldrehe
Auch bei der Bejagung der Feldrehe gibt es ein paar Besonderheiten zu beachten. Der jagdlich nutzbare Zuwachs ist auf Grund der höheren Sterblichkeitsrate der Feldrehe geringer als beim Waldreh. In Feldgebieten sollte die Jagd auf Böcke, vor allem Jährlinge, sowie Schmalrehe intensiv am 1. Mai beginnen, weil die Kulturen noch niedrig sind. Schon Ende Mai findet das Rehwild in den Feldern so viel Deckung, dass es fast unsichtbar wird. Zwischen Mai und Blattzeit werden Rehe im Feld heimlich. An Wasserstellen und auf Feldwegen kann man sie am ehesten in den frühen Morgenstunden abpassen. Während der Blattzeit kann man im Feld erfolgreich auf dem Sitzstock ansitzen und Ernteböcke jagen, wenn man das Blatten versteht.Der Abschuss weiblicher Stücke sollte aus genannten Gründen umsichtig erfolgen. Beim Bockabschuss sollten Jährlinge bevorzugt erlegt werden, damit gut veranlagte Böcke alt werden können.
Hans Joachim Steinbach