WAFFEN & PATRONEN Patronen Ablenkung von Geschossen: Flug ins Ungewisse

Ablenkung von Geschossen: Flug ins Ungewisse


 
Helmut Kinsky, DEVA (Fotos: Frank Rakow)
Helmut Kinsky, DEVA (Fotos: Frank Rakow)
Lassen sich bleifreie Geschosse leichter ablenken und sind deshalb gefährlicher? Diese Frage untersuchte die DEVA. Die Ergebnisse bringen die Diskussion Blei kontra bleifrei wieder ins Rollen.
 
Jäger, Munitionsindustrie, Naturschützer und viele andere haben gespannt darauf gewartet. Jetzt ist es da: das
 
In Auftrag gegeben wurde es vom Bundeslandwirtschaftsministerium. Grund: Bei der Diskussion um die Verpflichtung zum Gebrauch bleifreier Büchsenmunition wurde den bleifreien Geschossen eine hohe Ablenkbereitschaft nachgesagt. Und da es bei der Sicherheit keine Kompromisse geben darf, erhielt die Deutsche Versuchs- und Prüf-Anstalt für Jagd- und Sportwaffen (DEVA) den ministeriellen Forschungsauftrag, dies zu untersuchen.
 

Geschossaufbau wichtig

 
Über 2 500 Patronen mussten geladen werden, um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen
Die DJZ berichtete in Wort, Bild und Film ausführlich über den umfangreichen Versuch in Buke (siehe DJZ 9/2010: Super-Test für Geschosse – Blei kontra bleifrei). Der jetzt vorliegende Abschlussbericht ist eine Fassung, die selbst für technisch Versierte nur schwer zu lesen ist. Das wird auch dann nicht einfacher, wenn man die Bewertung durch Dr. Beat Kneubuehl studiert. Der Diplom-Mathematiker und Leiter des Zentrums für Forensische Physik/Ballistik am Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern begleitet als externer Gutachter das Projekt und soll die Ergebnisse interpretieren.
 
Für die Ablenkung wurden in den Versuchen 6 Medien getestet: harter Boden, weicher Naturboden, Baumstamm, Gebüsch, Steinplatte und Rückpraller an Baumstamm und Granitplatte nach Durchschuss eines Seifeblockes als Simultanersatz für einen Wildkörper. Soviel lässt sich jedoch sagen: Signifikante Unterschiede in der Ablenkung zwischen den Materialien Blei und Bleifrei sind bei den über 2.500 Schüssen in 3 Kalibern (.243 Winchester, .308 Winchester und 9,3 x 74 R) nicht festzustellen. Dafür stellte sich jedoch heraus, dass der Geschossaufbau einen wesentlichen Einfluss auf die Flugbahn des Geschosses nach Berühren eines Hindernisses oder nach Austritt aus dem Zielmedium (Wildkörper) ausübt. „Das ist eine eindeutige und die wesentliche Erkenntnis dieser umfangreichen Versuchsreihe“, sind sich bei der DEVA Geschäftsführer Helmut Kinsky und der technische Leiter Ingo Rottenberger einig.
 
Nach Ansicht der beiden Experten muss im Hinblick auf die Beurteilung von Sicherheit auf der Jagd aber auch auf die „Ausreißer“ geachtet werden. „In der Statistik aller Schüsse gehen die extremen Abweichungen natürlich unter“, betont Kinsky.
 

Muss aufgrund dieser Erkenntnisse die Unfallververhütungsvorschrift (UVV) Jagd der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften überarbeitet werden?

 
Ludger Michels, der dafür zuständige Mann beim Spitzenverband der landwirtschaftlichen Sozialversicherung in Kassel, will in Kürze seine sechsköpfige Expertenkommission zusammenrufen, um diese Frage zu erörtern. Er erwartet jedoch keine grundlegenden Neuerungen. Wer sich die zuständige Passage in der UVV anschaut, weiß warum: „Ein Schuss darf erst abgegeben werden, wenn sich der Schütze vergewissert hat, dass niemand gefährdet wird“, heißt es dort. Damit ist der Versicherer im Zweifelsfall immer fein raus!
 

Was bedeutet das Gutachten für die Munitionsindustrie?

 
Gerhard Gruber, der Leiter des Technischen Service bei der RUAG, ist seit den Ursprüngen an der öffentlichen Diskussion „Blei kontra bleifrei“ beteiligt. Das Abprallverhalten der Geschosse ist für ihn nach wie vor ein Thema, „denn für uns als Hersteller ist Sicherheit ein ganz wichtiges Punkt“. Er verweist aber auch auf laufende Praxisversuche in den Landes- und Bundesforsten. „Im Bereich bis knapp 150 Meter wirken die bleifreien Geschosse zufriedenstellend. Auf weitere Entfernungen gibt es offenbar Probleme.“
 
Förster berichten von schlechtem Zeichnen, wenig Schweiß und langen Fluchtstrecken, vor allem bei schwerem Wild. So sollen viele Tester in der Rotwildbrunft wieder auf ihre bewährten Bleigeschosse zurückgegriffen haben. Nach Aussage von Gruber ist die Nachfrage bei bleifreier Munition bisher so gering,dass RUAG zur Zeit die Produktion von „Bionic black und yellow“ auf Eis gelegt hat. „Und das obwohl wir uns als Europas größter Munitionshersteller stets um umweltgerechte Produkte bemühen.“
 
Gerhard Gruber ist der Meinung, dass es nach einer jahrzehntelangen Entwicklung der bleihaltigen Geschosse Zeit braucht, bis Projektile mit Alternativmateralien den komplexen Ansprüchen der Jäger gerecht werden. Dass in Schweden jetzt Kupfergeschosse wegen gesundheitsgefährdender Dämpfe („Kupferfieber“) vom Markt genommen wurden, macht die Sache nicht einfacher. „Wir arbeiten alle an adäquaten Lösungen zu Blei. Aber noch haben wir sie nicht.“
 

Bleifrei nicht verbieten

 
„Die Ergebnisse sagen deutlich, wir müssen bleifreie Geschosse aus Sicherheitsgründen nicht verbieten. Sie verhalten sich nicht anders als bleihaltige, auch wenn sie weiter fliegen“, sagt Peter Lohner, zuständiger Referatsleiter im Bundeslandwirtschaftsministerium und damit Auftraggeber des DEVA-Gutachtens. Der große Gefährdungsbereich bei Schüssen auf befestigte Wege ist für Lohner eine weitere Erkenntnis aus dem DEVA-Gutachten, die sich in den Köpfen der Jäger festsetzen sollte. Um eine abschließende Bewertung mit den Jagdreferenten der Länder vorzunehmen, will Lohner die „Feldversuche“ in den Forsten abwarten, „denn das berührt tierschutzrelevante Fragen, die mit diesem Gutachten noch nicht beantwortet sind“.
 
Im Dunstbereich dieser Thematik ist auch das Bundesinstitut für Risikobewertung tätig. Hier geht es um Fleischqualität. „Für Normalverzehrer von Wildbret (0,4 kg pro Jahr) bestehen bei Verwendung von Bleimunition keine Bedenken“, erklärt Experte Dr. Niels Bandick. Schwangere, stillende Mütter und Kleinkinder sollten nach Vorgaben der EU jedoch Blei vollständig vermeiden. Demnächst will das Institut die Bleibelastung bei Extremverzehrern untersuchen lassen. Freiwillige werden noch gesucht.
 


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